SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 9. April 2003:

Jörg Königsdorf in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vom 9. April 2003:

Bachs bester Freund

Die Suiten für Violine Solo von Johann Paul von Westhoff

Vielleicht war es tatsächlich so: Dass Johann Sebastian Bach, als er sich um 1720 daran machte, seine sechs Sonaten und Partiten für Solovioline zu schreiben, noch einmal kurz an Johann Paul von Westhoff zurückdachte. Jenen merkwürdigen Geiger mit dem kunterbunten Lebenslauf, den er fast zwanzig Jahre vorher bei seiner ersten Stelle am Weimarer Herzogshof kennen gelernt hatte und der schon 1696, ein Vierteljahrhundert vor ihm selbst, auf die Idee gekommen war, eine Reihe von Solosuiten für sein Instrument zu schreiben. Und vielleicht setzte Bach diesem damals schon längst verblichenen Jugendbekannten sogar absichtlich ein kleines Denkmal, indem er sich von dem Thema einer Gigue aus Westhoffs Sammlung zur Fuge seiner zweiten Solosonate inspirieren ließ.

Daran, dass Westhoff gründlich Vergessen wurde, konnte auch Bach nichts ändern. Selbst nachdem die sechs Suiten, die 1913 in einer ungarischen Bibliothek entdeckt worden waren, Anfang der siebziger Jahre im Druck erschienen, hielt sich die Neugier der Geiger in Grenzen. Erst jetzt liegt erstmals eine Gesamt­einspielung vor. Das Ergebnis ist verblüffend: Mehr noch als die zufällige, kurzfristige Überschneidung der beiden Lebenswege (Bach ging danach als Organist nach Arnstadt, während Westhoff als „Professor der fremden Sprachen“ an die Universität Wittenberg berufen wurde, wo er 1705 starb), beweist die Musik selbst die Vorläufer- und Anregerfunktion von Westhoffs Suiten.

Denn ebenso wie später Bach ist Westhoff weniger an der barock-theatralen, bildhaft unterhaltsamen Virtuosität interessiert, die noch bei den herausragenden Violinkomponisten des 17. Jahrhunderts, bei Biber und Schmelzer, im Vordergrund steht. Statt dessen geht es ihm darum, der Geige die Möglichkeit polyphonen Spiels zu erobern - und das meist mit einer erstaunlichen satztechnischen Raffinesse. Durch die knapp gefassten Sätze der allesamt viersätzigen Suiten, deren Melodik und Ornamentierung sich am französischen Stil des ausgehenden 17. Jahrhunderts, an Marais und Couperin, orientiert, weht so eine Ahnung vom Geist absoluter Musik im Sinne Bachs: Die Tanzformen, vor allem die kapitalen Allemanden, werden bei Westhoff zum Ausgangspunkt eines abstrakten kompositorischen Entwicklungsprozesses.

Der 32-jährige Friedemann Amadeus Treiber, der sich auf dieser CD auch noch mit einer eminent geigerisch gedachten und ausdrucksintensiven Sonate als Komponist präsentiert, spielt Paul von Westhoffs Stücke ohne historisierende Überzeichnungen auf einem modernen Instrument, mit schönem Ton, klar strukturierender Agogik und unforciert tänzerischem Grundpuls. Diese Musik hätte J. S. Bach sicher nicht vergessen. (Podium Karlsruhe / Continuo WOW 019-2).

JÖRG KÖNIGSDORF