Siegfried Schultze - Der verschollene Pianist

Siegfried Schultze ca. 1943

Siegfried Schultze war von 1920 bis in den 2. Weltkrieg hinein ein nicht nur in Deutschland allgegenwärtiger Pianist.

Wer seinen Namen heute überhaupt noch kennt, verbindet ihn nurmehr mit seiner Rolle als Partner von Bronislaw Hubermann und Georg Kulenkampff. - Und schon bei den Begleittexten zu diesen Aufnahmen fehlt praktisch jede weitergehende Information ...

Seine weltumspannende Solistenlaufbahn indessen ist total in Vergessenheit geraten. Nach Kriegsende verliert sich seine Spur.

Dabei kommt Schultze "aus einem guten Stall"!!

Fruchtbarer Zufallsfund

Elizabeth MacDougall
Georg Loie

Meine jahrzehntelange Suche führte fast durch Zufall und hilfreiche Musikfreunde doch noch zum Erfolg!

Schultze wanderte Anfang der 50er Jahre in die USA aus und verbrachte seine letzten Jahrzehnte - als Mensch und Lehrer hochgeachtet - in der Abgeschiedenheit der Kleinstadt Ukiah nahe LA, wo er 1989 - 92-jährig - starb.

Der o.g. Zufall führte zu der in Ukiah ansässigen und lehrenden Pianistin Elizabeth MacDougall, die mir sofort und mit Begeisterung weiter half. "Schultze war der beste Lehrer, den ich je hatte".

Dies war eine der Fundstellen zu Elizabeth MacDougall - Siegfried Schultze:

Native Ukiahan Elizabeth MacDougall has been teaching piano at Mendocino College since 1985. She is a recipient of the Mendocino College President's Award Year 2000 for Excellence in Teaching and has studied piano with Siegfried Schultze, Frank Wiens, Harald Logan and John Ringold of Santa Rosa. Her first CD, "New Perspective," features exquisitely performed works of Chopin, Beethoven, Debussy, Mozart and Bach.

Einer der langjährigsten Studenten Schultzes - Georg C. Louie - schnitt 1973 einen Konzert-Abend des damals 76-jährigen Pianisten mit.  

Die daraus erstellte CD ist z.Z. (März 2012) noch in Vorbereitung. Ich will aber schon einmal einen Vorgeschmack ermöglichen.

Siegfried Schultze - Saturday, November 10, at 2:30 P.M. (1973)

Siegfried Schultze 1969

Johann Sebastian Bach: Französiche Suite Nr. 6 E-Dur BWV 817

Ludwig van Beethoven: Sonate für Klavier Nr. 26 Es-Dur op. 81a „Les Adieux“

Béla Bartók: Nr. 10 Bärentanz: Allegro vivace aus Zehn leichte Klavierstücke Sz 39 (1908)

Claude Debussy: aus Préludes I: Ce qu'a vu le vent d'ouest    -  Préludes I: La fille aux cheveux de lin -  Préludes I: La danse de Puck

Morton Gould: American Caprice Fast and bright 

Robert Schumann: aus Fantasiestücke op. 12: Nr. 1 Des Abends: Sehr innig zu spielen  -  Nr. 5 In der Nacht: Mit Leidenschaft

Frédéric Chopin: Nocturne Nr. 4 op. 15 Nr. 1 F-Dur;  Mazurka Nr. 26 op. 41Nr. 1 cis-moll;  Etude op. 25 Nr. 7 cis-moll  -  Etude op. 25 Nr. 5 e-moll  -  Etude op. 10 Nr. 3 E-Dur  -  Etude op. 10 Nr. 4 cis-moll   -  Walzer Nr. 15 op. posth. e-moll   -  Zugabe: Chopin: Etude op. 25 Nr. 3 F-Dur  -  Absage und Grüße von Siegfried Schultze

Morton Gould: aus "American Caprice"

Andreas Kunles Gedanken zu Siegfried Schultze

Vom Begleitetwerden zum Begleiten, vom Begleiten zum Verschwinden - eine Entwicklung mit teilweise absonderlichen Zügen

Mit dem allmählichen Zurücktreten des Klaviers in die zweite Reihe scheint freilich in vielen Köpfen nach und nach auch das Bewusstsein für die Person am Tasteninstrument abhanden gekommen zu sein. Besonders merkwürdig ist es, dass ausgerechnet dort, wo der Pianist eigentlich immer "nur" als Begleiter fungierte, nämlich im Liedbereich, etliche Namen im allgemeinen Bewusstsein verankert zu sein scheinen (Gerald Moore, Irwin Gage, Geoffrey Parsons, Hartmut Höll, Helmut Deutsch, Staffan Scheja, Ralf Gothoni), während der "Begleiter" des Instrumentalisten - selbst wenn er mit zahllosen Koryphäen aufgetreten ist - leichter aus dem Gedächtnis verschwindet. Bisweilen sind die Namen dieser Künstler nicht einmal mehr im Internet aufzufinden, wo doch heute eigentlich über Krethi und Plethi Informationen in Hülle und Fülle abgerufen werden können.

Eines der - in diesem Zusammenhang mag die Formulierung ein wenig paradox erscheinen - markantesten Beispiele ist der Pianist Siegfried Schultze, der sich quasi in Luft aufgelöst zu haben schien und jahrzehntelang praktisch völlig von der biographischen Bildfläche verschwunden war. Obwohl Schultze bei Heinrich Barth ausgebildet wurde, der solche pianistischen Schwergewichte unterrichtete wie Arthur Rubinstein, Wilhelm Kempff oder Heinrich Neuhaus (der allerdings schnell die Flucht ergriff und sein Heil bei Godowsky suchte und fand), obwohl er dank seiner beachtlichen Fähigkeiten auch als Solist erfolgreich tätig war (wie auch viele andere "Begleiter"), obwohl er mit den ganz Großen kammermusikalisch musizierte, teilte Schultze das Schicksal anderer Musiker (wie z.B. auch Ignace Tiegerman), die nicht nur heute fast gänzlich unbekannt sind, sondern deren Spur sich für lange Zeit beinahe unauffindbar verloren hatte.

Durch glückliche Umstände und sein schon zum Markenzeichen gewordenes "Festbeissen" an musikalischer Materie ist es Wolfgang Wendel nun gelungen, eine Schultze-Rarität aufzutreiben und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen: Es handelt sich um ein Klavierrezital des Pianisten vom 10. November 1973 in Ukiah, Kalifornien, in allerdings teils etwas gewöhnungsbedürftiger ("Unterwasser"-) Klangqualität. Schultze war zu diesem Zeitpunkt 76 Jahre alt, seine manuellen Möglichkeiten hatten durch Arthrose gelitten - und dennoch ist er dem anspruchsvollen Programm, mit kleinen Einschränkungen, in erstaunlicher Weise gewachsen. Hier tut sich kein Über-Virtuose pianistisch kund, das war Schultze trotz sehr zuverlässiger Technik gewiss nie, wie man auch an seinen früheren Aufnahmen z.B. von Chopin-Scherzi hören kann. Doch ohne Frage spielt hier ein (technisch immer noch beschlagener!) Musiker auf eine sehr einnehmende Weise Klavier: flüssig, rund, schlicht, sehr natürlich und unaffektiert, dabei nie langweilig, mit singendem Ton. Die Französische Suite von Bach weist einige kleine technische Ungenauigkeiten auf, doch halten die sich im Rahmen und dank der wunderbaren Kantabilität gelingt z.B. die Sarabande ganz besonders schön. Gemessen an heutigen Standards mag das wenig artikulierte Gestalten an Schultzes Bach-Spiel kritikwürdig sein, doch ist umgekehrt die Gefahr einer nervtötenden Über-Artikulation nicht existent. Die sehr anspruchsvolle "Les-Adieux"-Sonate bewältigt der Pianist, wenngleich die schweren Doppelgriff-und Akkordstellen im 1. Satz und die heiklen "Sägezahn"-Passagen im letzten Satz ihm unüberhörbar Probleme bereiten. Durchweg nimmt die kantable Spielweise ein, alles klingt schön, ist im großen Bogen dargeboten, jedoch zugleich dynamisch ein wenig eingeebnet. Die Piano-Anweisungen des Komponisten jedenfalls werden hier wirklich ernst genommen.

Auch in Bartóks "Bärentanz" aus den 10 leichten Stücken, Sz 39/BB 51 (1908), weicht Schultze nicht von seinem ästhetischen Pfad ab: Das Stück er"klingt" im wahrsten Sinne, ohne "Bartók-Härte", fast etwas zu schön. Der Komponist selbst hat das Werk deutlich konturierter (aber nicht gedroschen!), eingespielt.

Einer der Höhepunkte des Programms ist ohne Frage Schultzes Debussy-Darbietung: Hier sind seine grundsätzlichen (klang-)ästhetischen Vorstellungen ungemein stimmig, in "Ce qu'a vu le vent d'ouest" kommt hinzu, dass der Pianist mit großartigem Zugriff die dynamischen Kontraste eindrucksvoll darstellt. "La fille aux cheveux de lin" erklingt wunderbar schlicht, schön und flüssig und aus "La danse de Puck" macht Schultze durch leichtes und duftiges Spiel fast den Tanz eines Luftwesens. Verwirklicht er hier aufs Genaueste die Spielanweisung "leger", so rückt er allerdings das gleichfalls geforderte Kapriziöse etwas in den Hintergrund, spielt rhythmisch nicht ganz so pointiert (wie beispielsweise Gulda).

Es schliesst sich (im wahrsten Sinne des Wortes) "American Caprice" von Morton Gould an: Das Stück wirkt, als hätte es wiederum Debussy, allerdings zusammen mit Gershwin, geschrieben. Dieses "verfremdete" Debussy-Prélude passt erneut bestens zu Schultzes entspanntem, leichtem und schönem Klavierspiel. Ohne Schroffheiten, ohne Übergewicht wird es in Szene gesetzt.

Schultze setzt das Programm dann mit romantischen Komponisten fort (und deckt so mit seiner Stückauswahl die ganz wichtigen Epochen der Musikgeschichte vom Barock bis zur gemäßigten Moderne ab): Zu Beginn hören wir aus Schumanns Fantasiestücken, op. 12 das erste Stück, "Des Abends", gekennzeichnet wiederum durch schlichtes, flüssiges Spiel ohne die (gleichfalls berechtigte!) Bedeutungsschwere anderer Interpretationen. Es folgt aus demselben Zyklus die Nr. 5, "In der Nacht", quasi die (chrono-)logische Fortsetzung. Schultze führt auch in seiner Darstellung die Linie des ersten Stücks weiter: Man erlebt nicht die Hoffmannsche, gespenstische, fantastische, schwül-überspannte Spuk-Nacht, sondern eine weit gesündere, sehr klangschöne Version.

Vielleicht darf man neben Debussy (und Gould) die folgenden Stücke von Chopin als die herausragenden Ereignisse dieser CD bezeichnen. Wiederum ist zu konstatieren, dass Schultzes feine, unaufdringliche, klangschöne Spielweise einfach sehr gut zu dieser Musik passt, zudem hat man - trotz einiger kleiner Fehlgriffe - den Eindruck, dass der Pianist sich - rein technisch - richtig warmgespielt hat. Nocturne und Mazurka werden rund und fließend dargeboten, Extreme finden sich nicht: Der Kontrast des Mittelteils der Nocturne (gewiss wiederum bewusst an Schumanns Stück "In der Nacht" angeschlossen!), wird etwas abgemildert, trotz dosierter Dramatik bleibt das Spiel aber stets interessant. Dies gilt auch für die Mazurka, in der extreme Pointierungen und Schattierungen vermieden werden. Die in Schultzes Interpretationen erkennbare Neigung zum weichen Übergang, zur Vermeidung von Rauhigkeit und zur Milderung von Kontrasten weist (zumindest im Falle dieses Konzerts in Ukiah) eine interessante Parallele in der Gestaltung des Programms mit fließenden Übergängen von einem Programmpunkt zum nächsten auf. Und wenn das Spiel eines Pianisten Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit zulässt, dann muss Siegfried Schultze ein ausgesprochen ausgeglichener, substantieller, unprätentiöser (aber alles andere als langweiliger) Mensch gewesen sein.

Hatte man vielleicht zu Beginn des Abends, vor allem bei manchen Stellen in Bachs Französischer Suite und Beethovens "Les-Adieux"-Sonate, den Eindruck, dass dieser Pianist nicht (mehr) ganz auf der Höhe (und von der Arthrose in seinem Spiel vielleicht doch etwas stärker beeinträchtigt sei), so zeigt sich in den Chopin-Etüden, über welch wunderbare technische Möglichkeiten Schultze trotz Krankheit und immerhin 76 Lebensjahren immer noch verfügte: Insbesondere fällt dies bei der heiklen cis-moll-Etüde, op. 10, 4  auf, die mit staunenerregender Geläufigkeit und Leichtigkeit dargeboten wird. Ein paar läppische Fehlgriffe kann natürlich jeder Esel hören, sie haben aber mit der technischen Beherrschung an sich absolut nichts zu tun, an der nicht der geringste Zweifel besteht. Auch die Zugaben (e-moll-Walzer und Etüde op. 25, 3) zeugen vom immensen pianistischen Können dieses auch als Solist so unaufdringlich erscheinenden "Begleiters". Aber  unaufdringliches Spiel birgt eben oft auch die Gefahr, zu unauffälligem und dann unbeachtetem Spiel zu werden…

Andreas Kunle