Kulenkampff - Solti spielen Brahms: 3 Violin-Sonaten

1 - Title : Brahms: Sonate Nr. 1 Beginn 1. Satz


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Ausgangssituationen

 Bei Georg Kulen­kampffs ersten Plat­ten­auf­nah­men nach dem Zweiten Welt­krieg zusammen mit Georg Solti - Beet­ho­vens Kreutzer-Sonate, Mo­zarts Sonate B-Dur KV 454 und den hier vorge­leg­ten Violin-So­na­ten von Brahms - liegt die Frage in der Luft, wie die so konträr gesehenen Per­sön­lich­keiten als Inter­pre­ten überhaupt zueinander passen.

 Herbert Müller schrieb vor Jahrzehnten: “Solti, bei dieser Auf­nahme nicht Dirigent, sondern Pianist, pro­vozierte Partner Ku­len­­kampff mitunter zu slawischer Maß­lo­sig­keit des Gefühls. Das deutsch-ungarische Rendezvous fand in den Schweizer DECCA-Studios statt. Kulenkampff und Solti: ein Duo oh­ne Wiederkehr - Kulen­kampff starb 1948. Solti widmete sich nach dieser Pro­duktion nur noch seinem ‘Haupt­instru­ment’ Or­che­s­ter.“

 Müller bedient hier das Klischee vom temperamentgeladenen Ungarn und dem bra­­­­­­­­ven, ty­pisch deutschen Musiker, der dank des „ungarischen“ Anstoßes in slawische Maßlosig­keit des Gefühls verfällt.

 Nicht nur Herbert Müller projiziert bei seiner Schilderung das Bild des späteren Solti - wie wir ihn vor Augen und Ohren ha­ben - auf den jungen Solti vor seiner wahrhaft weltumspannenden Karriere.

Solti schreibt über seine Zeit ab 1943: „Ich war ein Spätentwickler, ja ziemlich zu­rück­geblieben und in mancher Be­zie­hung weder intelligent noch gebildet. Ich glaube sagen zu können, daß ich mit dreiunddreißig Jahren noch das Niveau eines Zwölfjährigen hatte. Wegen der Musik hat­­te ich nie eine richtige Gymnasial­bil­dung genossen. Die Musik war wirklich al­les, was ich kannte.“

Und über die Jahre 1944 bis 1946 in Zü­rich: „Ich hatte ein ungeheures Ver­lan­gen zu dirigieren ... Ich glaube, die Musiker müs­sen mich gehaßt haben, weil ich zwar ehrgeizig war, aber weder Proben­er­fah­rung hatte noch über irgendeine der Tech­­niken verfügte, die man sich in der Praxis erwirbt. Ich muß sehr primitiv gearbeitet haben. Ich wollte zuviel zu früh ...“

Auch wir als zurückblickende Betrachter verlangen „zuviel zu früh“.

Man mag zunächst Soltis „Alter“ von 36 Jahren anführen - und eine entsprechende Erfahrung implizieren. Dem muss man Soltis eigene Schilderung des „Spätent­wicklers“ und die durch die Zeitumstände bedingte „Ver­geu­dung“ seiner Jugend gegenüberstellen.

Bei dem hier nur andeutbaren Hinter­grund ist kaum zu erwarten, dass das un­freiwillige Gespann Kulen­kampff - Solti zu einer komplex gearteten Inter­pre­ta­tions­höhe gelangen konnte wie bei Kulenkampffs Jahr­zehnte umspannenden Partner­schaf­ten mit Sieg­fried Schultze oder Wilhelm Kempff. Aus Kulenkampffs sehr dichter pri­vater Korrespondenz geht auch nichts zu Proben mit Solti hervor.

Der mit 30 Jahren Solis­ten-Praxis  aus­­­ge­stattete Kulenkampff lässt mit sei­ner klar führenden Interpretation immer wie­der den Atem anhalten, nicht we­gen slawischer Maßlo­sig­­keit des Ge­fühls, sondern we­gen seines unglaublich sensitiven und intensiven musikalischen Aus­for­mungs­vermögens - das Vio­lin­spiel auf Höchst­niveau vor­aussetzt.

Andreas Kunle: „Kulenkampff spielt um sein Leben!“

Solti zeigt sich eher als zwar sehr hochtalentierter, spannungsgeladener, aber bisweilen wie un­gerührt oder „übertrainiert“ wir­kender Pia­nist. Der Gestaltung intimerer und/ oder entspannterer Bereiche freilich setzt dieser fast permanente Überdruck deutliche Gren­zen.

So ganz vergaß Solti das Klavier nicht: über die Jahrzehnte hinweg übernahm er immer wieder den Klavier­part bei Kam­mermusik-Konzerten und -Aufnahmen. Noch 1987 nahm er zusammen mit Mur­ray Perahia Bartóks Sonate für 2 Klaviere und Schlag­zeug sowie Brahms’ Haydn-Vari­ationen auf.

Georg Kulenkampff verlor sein „Spiel ums Le­ben“ wenige Monate nach der letzten Auf­­nahme mit Solti. Über die Todes­um­stände liegt eine ganze Rei­he teils signifikant voneinander abweichender bis­ ein­ander wi­der­­spre­chender Versionen vor. Dabei ist es ein schwacher Trost, dass keine davon wirklich zu­trifft!