Ingo Harden: MARK HAMBOURG in Pianisten-Profile

Mark Hambourg

1879 am 31. Mai im südrussischen Bogutschar bei Wo­ronesch geboren.

Sein Vater Michael, dessen verwandtschaftliche Wur­zeln vermutlich nach Hamburg zurückreichen, hatte bei Nikolai Rubinstein und Sergej Tanejew studiert, unter­richtete in Moskau, siedelte mit seiner Familie 1890 nach London um und gründete dort und später auch in To­ronto angesehene Konservatorien.

1888 Der Vater unterrichtet seinen Sohn anfangs seI­ber und stellt ihn als Achtjährigen mit Mozarts d-Moll-­Konzert in Moskau vor.

1891 Auf Drängen und mit Unterstützung von Ignaz Paderewski geht er zu dessen früherem Lehrer Theodor Leschetitzky nach Wien.

 1895 AIs Einspringer für die Liszt-Schülerin Sophie Menter gibt er unter der Leitung von Hans Richter sein Wiener Konzertdebüt und unternimmt im selben Jahr seine erste große Konzertreise, die ihn bis nach Austra­lien führt.

1897 Er stellt sich, inzwischen britischer Staatsbürger, mit großem Erfolg in Berlin und Brüssel, im Jahr darauf auch in New York vor. Er beginnt von seinem Wohnsitz London aus das bewegte Leben eines um die Welt reisen­den Konzertpianisten, bildet mit seinen beiden jüngeren Brüdern ein Klaviertrio, tritt später als Klavierduo mit seiner Tochter Michal auf, macht außerdem zahlreiche Schallplatten und wirkt an mehreren Filmprojekten mit, unterrichtet und schreibt mehrere Bücher.

1960 Er stirbt am 26. August in Cambridge.

Ignaz Paderewski, hinsichtlich seines Einflusses eine Art Karajan unter den Pianisten seiner Zeit, bezeichnete den jungen Mark Hambourg als "das größte Naturtalent, das ihm je begegnet« sei, er beförderte seine Ausbildung und dann auch seine Karriere nach Kräften. So war Hambourg schon in den ersten Jahren des 20. Jahr­hunderts einer der gefeierten Pianisten der Zeit - in seiner Wahlheimat England war er lange Zeit »the people's pianist«. Er soll 1906 bereits sein tausendstes Konzert gegeben haben, kannte die Welt, war mit Musikern wie Hans Richter und Arthur Nikisch, Maurice Ravel, Mo­riz Rosenthal und Ferruccio Busoni befreundet, machte 1909 seine erste Schallplatte und be­spielte Klavierrollen.

Er war Solist der ersten, unter Leitung von Landon Ronald entstandenen Schallplatten des b-Moll-Konzerts von Tschaikowsky [Sapellnikoff war 4 Monate früher], er war der erste Pianist, der alle (gängigen) Ungarischen Rhapsodien von Liszt auf Schellacks vorlegte, er hat 1923 Manuel de Fallas »Fantasia baetica« in den Trichter gespielt, noch bevor der Wid­mungsträger Arthur Rubinstein die Konzertpre­miere gegeben hatte. Hambourgs Diskografie umfasst einige große Werke wie etwa Beetho­vens Sonate op. 26 »mit dem Trauermarsch« und das c-Moll-Konzert mit Malcolm Sargent am Pult, die Schumann-Fantasie und Liszts »Vogel­predigt«, im Duo mit seiner Tochter Michal (1919-2004) spielte er Liszts Concerto patheti­que und Schumanns Andante und Variationen 0P. 46 ein. Vor allem aber hat er in den rund 25 Jahren seiner Schallplatten-Aktivitäten Kom­positionen aufgenommen, die auch damals schon unter dem Oberbegriff »Beliebte Klavierstücke« liefen: von Scarlattis Katzenfuge und Händels Grobschmied- Variationen über Beethovens Va­riationen »Nel cor ... « bis zu Chopin - Nocturnes und -Walzern, von Schumanns »Aufschwung« und »Träumerei« und Brahms' As-Dur-Walzer über Liszts »Liebestraum«, »Campanella«, »Wal­desrauschen« und anderes bis zu Schmissigem von Moszkowski oder Dohnanyi.

Trotz dieser Fülle des Materials liegen bis jetzt nur wenige der alten Hambourg- Titel in digitalen Transfers vor. Die Gründe dafür lie­gen sicherlich weniger in den vergleichsweise zahlreichen Stellen mit Fehlgriffen oder feh­lenden Tönen als vielmehr in der Stilistik von Hambourgs Spiel, das noch viele Merkmale des »freien«, bardenhaften Virtuosenturns zeigt, das in der Nach-Liszt-Ära eine erhebliche Rolle spielte. Viele dieser Aufnahmen bestechen durch weiträumigen Schwung und Klangentfaltung, ziehen den Hörer schnell und oft unwidersteh­lich durch musikantischen Elan, Vitalität und Spontaneität in den Bann und sind unzweifel­haft Zeugnisse einer Persönlichkeit von großem Format. Aber Hambourgs schwungvoll souve­räne Deklamation wirkt doch oft auch selbst­herrlich und überzogen, schlägt gelegentlich ins stilistisch Verquere um. Händels »Harmonious Blacksmith« zum Beispiel wirkt unter seinen Händen wie ein direkter Vorläufer von Mosz­kowskis »Etincelles«. Gleich im ersten Soloein­satz seiner Darstellung des c- Moll- Konzerts von Beethoven lässt er so viel »Einfühlung« walten, dass die klassischen Konturen der Musik vor lauter Rubato und ständig wechselndem »Ton« wegzuschmelzen scheinen. In seiner frühen Aufnahme des Tschaikowsky-Konzerts wird die Dreiachtelmelodie des Prestissimo-Mittelteils auf fast schon groteske Weise zu einem lang­samen Walzer heruntergeschraubt.

Dass er, wie der acht Jahre jüngere Arthur Rubinstein in seinen Erinnerungen über eine Begegnung mit Hambourg schrieb, »mit seinen willkürlichen Freiheiten [ ... ] ein Virtuose der alten Schule« war und zeit seines Lebens blieb, lässt sich am verblüffendsten in seinen Einspie­lungen der Liszt - Rhapsodien erfahren. Da setzt ein alter Klavierlöwe ganz auf brüllende Bühnen­präsenz und schüttelt mächtig die Mähne: Die große, ja theatralische Geste ist alles, ganz in Hambourgs Sinne wird »dem Reproduzierten die Warme der Persönlichkeit« mitgegeben. Doch der Text wird unter Prankenhieben und üppiger Pedalisierung oft nur noch in Umrissen hörbar: Musizieren noch im Stadium medialer Unschuld. Oder, wie Artur Schnabel bissig und in ironischer Umkehrung des Wortes meinte, das ihm sein Lehrer Leschetitzky einst auf den Weg gegeben hatte: »Er ist ein Pianist. Er wird nie ein Musiker«.

Etude brillante. Tschaikowsky: Konzert Nr. 1 (Royal Al­bert Hall 0, Ronald) • Händel: Grobschmied- Variatio­nen • Chopin: Nocturnes 0p.9.2, 55.1 • Chopin: Grande Valse 0p.42 • de Falla: Fantasia baetica (1923) • Debussy/ Borwick: Prelude a l'apres-midi d'un faune. Beethoven:Konzert Nr.3 (SO, Sargent) • Beethoven: Sonate op.26 • Liszt: Ungarische Rhapsodien Nr. 1-14, Rak6czy-Marsch (1926-1935) • Liszt: Concerto pathetique (mit Michal R) (1934) • Schumann: Fantasie. Schumann: Aufschwung, Träumerei. Schumann: Arabeske. Rachmaninow: Prelude cis-Moll. Dohnanyi: Rhapsodie Op.11.3 (um 1909-1935) alle Col/HMV

Kompositionen Paganini - Variationen u. a.

Schriften

How to Become a Pianist, London 1922 • From Piano to Forte, London 1931 • The Eighth Octave, London 1951

Literatur

Gerald Moore: Am I Too Loud?, London 1962; dt.: Bin ich zu laut?, Kassel 1976 • Eric Koch: The Brothers Ham­bourg, Toronto 1997

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Quelle: PIANISTENProfile, 2008, Bärenreiter-Verlag; Karl Vötterle GmbH & Co., KG, Kassel; ISBN 978-3-7618-1616-2

Ich danke herzlich für die Genehmigung de Wiedergabe.