Robert Soëtens

Soëtens-Portrait von Wolfgang Wendel in RONDO Nr. 6/1997

ROBERT SOËTENS

Älter als das Jahrhundert

Was für uns Geschichte ist, war für ihn Gegenwart und Jugend. Der Geiger Robert Soëtens  erlebte Bartók, Ravel und Strawinsky. und er hat 1935 das für ihn komponierte Zweite Violinkonzert Prokofjews uraufgeführt. Dieses Jahr feierte er seinen 100. Geburtstag.

Wolfgang Wendel stellt den unbekannten Jahrhundertgeiger vor.

 

Als ich Robert Soëtens am 19. Juli (1997) telefonisch zum 100. Geburtstag  gratulieren wollte, wurde mir mitgeteilt, er sei für einige Tage in Urlaub gefahren ...

Meine Neugierde auf diesen Geiger wurde schon vor fünfundzwanzig Jahren geweckt, als ich las, er habe 1935 Prokofjews Zweites Violinkonzert uraufgeführt - doch sie konnte lange nicht befriedigt werden: kein Nachschlagewerk gab Auskunft!

1993 „stolperte ich fast vor der Haustür über den vergebens Gesuchten: als Sechsundneunzigjähriger hielt er an der Musikhochschule Karlsruhe einen Meisterkurs. Nach jeweils vier Stunden Unterricht vormittags und nachmittags entschuldigte er sich gegen Mitternacht er werde müde! Bei einem Besuch in Paris, zu dem Soëtens einen deutschsprechenden neunundachtzigjährigen Freund mitbrachte, schwelgten man im Nu in „alten Zeiten“. Aus den Gesprächen und seinem reich dokumentierten Autobiografie-Entwurf schälte sich das Bild eines für die Musik unseres Jahrhunderts rastlos tätigen Motors und Mittlers heraus.

Robert Soëtens, 1897 im zentralfranzösischen Montlucon als Sohn einer Pianistin und eines Geigers geboren, empfing nach frühem Unterricht der Eltern als Elfjähriger durch Eugene Ysaÿe prägende Anregungen. Soëtens wollte von Anfang an kein „Paganini-Spieler“ werden. Bereits während des Studiums am Conservatoire National (1910-15) setzte ihn Vincent d‘Indy als Konzertmeister des institutseigenen Orchesters ein. Fast zwangsläufig wurde er aufs engste verbunden mit dem Schaffen der „Groupe de Six“, aber auch mit Roussel, Pierné, Delvincourt, Martinu.

 

1913 wirkte Soëtens mit an den Uraufführungen des Ersten Streichquartetts seines Studienkollegen Milhaud und 1914 bei der berüchtigten, von Pierre Monteux dirigierten tumultuösen Uraufführung von Strawinskys „Sacre du Printemps”. Am 23. Januar 1925 spielte er die französische Erstaufführung von Ravels „Tzigane“ in der Fassung für Violine und Klavier. Während einer Skandinavien-Tournee - mit Ravel - nahm er die Konzertmeisterstelle der Osloer Philharmonie an (1925-27). Daneben und danach „tournierte“ Soëtens mit wachsendem Erfolg durch ganz Europa. Beim Eröffnungskonzert der in Paris zur Aufführung neuer Musik gegründeten Kammermusik-Vereinigung „Triton“ spielten Soëtens und Samuel Dushkin am 16. Dezember 1932 die von Prokofjew eigens hierfür komponierte Sonate für zwei Violinen op. 56.

Prokofjew, der 1934 „etwas für Violine“ zu komponieren plante, fragte Soëtens beiläufig: „Na und, wie möchten Sie das Konzert?“ Dieser, an einen Scherz glaubend, antwortete im gleichen Tonfall: „Natürlich mit der G-Saite und der Chanterelle (französische Bezeichnung für die E-Saite), mit „großer Violine“ - und dass sie singt! Prokofjew: „Das ist genau so, wie ich es zu machen gedachte!“

Der Violinpart entstand zwischen Januar und März 1935 in Paris, die Orchestration in der Sowjetunion. Die Uraufführung spielte Soëtens in Anwesenheit Prokofjews am 1. Dezember 1935 in Madrid.

Prokofjew war bis zur Rückkehr in die Sowjetunion Ende 1936 mit Soëtens als Klavier/Violin-­Duo auf Konzertreisen; doch zu Hause geriet er bald unter den Druck des Regimes. Nachdem die russische Geiger-Elite - mit David Oistrach an der Spitze - 1937 in Brüssel die ersten Plätze beim Wett­bewerb „Reine Elisabeth“ belegte, wurden die mit Soëtens vereinbarten russischen Aufführungen des Prokofjew-Konzertes abgesagt: Man hatte schließlich seine eigenen Geiger! Prokofjew selbst musste sich - nicht nur im Falle Soëtens - peu à peu von ‚‚kapitalistischen“ Freunden distanzieren ...

Soëtens, beileibe nicht nur „Monsieur Prokofjew-Concert“, ging während des Zweiten Weltkriegs wieder auf Tournee: Spanien, Portugal, Nordafrika, Palästina, Libanon, Türkei.

Seine Absicht, Anfang 1946 den Balkan zu durchqueren, kommentierte der französische Botschafter in lstanbul: „Sie sind verrückt, durch die balkanische Seite zu abenteuern; keine Eisenbahnen ...  Und wie wollen Sie das von sowjetischen Truppen besetzte Bulgarien verlassen? Oder Jugoslawen?” - Soëtens kam durch! Ein Kilo Zigaretten öffnete ihm in Jugoslawien die Grenzen - und die Türen zu den Konzertsälen in Zagreb und Belgrad. In Osterreich eingetroffen, lud ihn die Wiener Konzertgesellschaft zur österreichischen Erstaufführung von Prokofjews Zweitem Violinkonzert ein - und musste nach Intervention der Siegermächte drei Tage vor dem Konzert absagen.

Nachdem er weitere dreißig Jahre konzertierend die Erde umrundete, begann er als Achtzigjähriger, seine Erfahrungen an die Jugend weiterzuge­ben. Bis vor zwei Jahren fanden wir ihn bei Meisterkursen in Frankreich, England, am Salzburger Mozarteum, in Norwegen und Deutschland. Sein Autobiografie-Entwurf hält nicht nur ein prall gefülltes Musikerleben fest, sondern spiegelt auch ein Stück Zeitgeschic hte. Heute freut er sich über die rar gewordenen Besucher und plaudert ohne jede geistige Einbuße. Und wie eingangs gesagt: zum Hundertsten ging er erst mal in Urlaub ...

Wolfgang Wendel

Von Robert Soetens gibt es leider keine Aufnahme auf CD.

Artikel in den Badischen Neuesten Nachrichten

Offenheit für die Moderne und Begeisterung für Bach

Der 94jährige Geiger Robert Soëtens war Gast der Musikhochschule in Schloß Gottesaue

"Es ist schön im Schloß zu unterrichten“ sagt der Maestro, "nicht nur wegen der schönen Umgebung, sondern auch wegen der musikalischen Substanz. Schon zum zweiten Mal war der Geiger Robert auf Einladung der Musikhochschule nach Karlsruhe gekommen, um den jungen Violinstudenten etwas von der Erfahrung zu vermitteln, die er in seinem langen Leben als Interpret erworben hat.

Mit 20 Jahren hat er sein erstes Konzert gegeben, mit 80 Jahren trat er zum letzten Mal öffentlich auf.  Heute ist der Musiker, der einst zusammen mit Darius Milhaud am Pariser Konservatorium studiert hat und mit bedeutenden Komponisten seiner Zeit persönlichen Kontakt hatte, 94 Jahre alt.

"Sieben Stunden am Tag zu unterrichten", sagt der alte Herr, „ermüdet mich mehr,. als ein Konzert zu geben. „Schließlich gelte es' dabei, die innere Spannung zu halten, aber auch den Schülern des Kurses einzelne Passagen selbst vorzuspielen.  Was ihn am meisten interessiert, als Pädagogen und als Interpreten, das sind die Solosonaten und Solopartiten von Johann Sebastian Bach.

Das Buch von Albert Schweitzer über Bach, den „musicien-poète“, wurde für ihn zur Grundlage für eine ganz neue Art der Interpretation. Niemand habe solche Anregungen wie er für die Bach-Interpretation gegeben, da er die texte nannte. Von denen sich Bach inspirieren ließ. In der Musik von Bach gebe es Inspiration und Imagination, in ihr kämen Gefühle und Bilder der Natur zum Ausdruck, die man in einem früheren strengen Bach-Verständnis nicht beachtet habe.

"Mein Leben lang habe ich Bach gespielt wie alle anderen", sage Robert Soetens, "und jetzt, wo ich meine, eine Wahrheit gefunden zu haben, kann ich sie nicht mehr durch mein Spiel verbreiten." Immerhin bleiben ihm in den Ferienkursen und Meisterkursen die Möglichkeit, mit jungen Studenten über solche Perspektiven und Interpretationen sprechen.. Er liebt den Kontakt mit Studenten, denn schließlich, so sagt er über sich selbst, hat er das „Herz eines Zwanzigjährigen“ und die "Gesundheit eines Sechzigjährigen.“

Dennoch denkt er nach über die Vergangenheit, ist dabei, seine Memoiren abzuschließen, für die er sich den Titel ausgedacht hat: "Reise um die Welt in 80 Jahren".  Robert Soëtens, der in Montluçon in Zentralfrankreich als Sohn belgischer Eltern auf die Welt kam, wurde buchstäblich "in die Musik hineingeboren.  Seine Mutter war Pianistin, sein Vater Geiger und Schüler von Eugène Ysaye, von dem der Sohn bereits als Elfjähriger seine entscheidende Prägung erhielt. Als Vierjähriger war er so begeistert von der Musik,. daß er den Unterricht durch seine Eltern als eine Belohnung und nicht als Strafe empfand.  Auch Deutsch hat er als Kind gelernt, weil er in Berlin bei Carl Flesch studieren .wollte, doch der Erste Weltkrieg machte diese Pläne zunichte. Seinem Vater ist er dankbar, daß er kein "Wunderkind" aus ihm machen wollte.

Sein eigenes Ziel. war nicht, ein Virtuose mit Paganini-Repertoire zu werden, sondern ein Interpret, für den. das klassische  Repertoire ebenso wichtig ist wie das Werk zeitgenössischer Komponisten. Ein entscheidender Punkt in seinem Leben war die Uraufführung des zweiten - Violinkonzertes von.  Serge Prokofieff im Jahre 1935. Später wurde Robert Soëtens, der mit vielen großen Orchestern und Dirigenten auf Tournee ging, aber auch als Solist ganz Europa und schließlich die ganze Welt bereiste, zu einem Botschafter der Musik". Er spielte Werke von Sibelius, von Fauré, Debussy,  Ravel, Milhaud, Messiaen und Giselher Klebe.

Nur mit der technischen, der elektronischen Musik der Gegenwart hat er nichts im Sinn. Denn: was wird aus der Geige in dieser Zeit, in dieser Musik?  In einer Zeit,  in der die Geige an der Grenze ihrer kreativen Möglichkeiten angelangt scheint, gibt es für Robert Soëtens nur eine Lösung: die Rückbesinnung auf Bach.

Renate Braunschweig-Ullmann