Viktor Pikaisen

Joachim Hartnack mußte sich 1967 in Große Geiger von heute zu Viktor Pikaisen noch mit zwei Bemerkungen begnügen; Bemerkungen allerdings, über die man hätte stolpern müssen. Hartnack schrieb, Geiger wie Francescatti, Ricci und Kogan müßten "alle vor einem in Europa unbekannten Russen in die Knie gehen: vor Viktor Pikaisen." Später konnte Hartnack seine Randbemerkungen relativieren und zu einem kleinen Porträt ausweiten. Nur - Pikaisen ist weiterhin ausschließlich einigen Insidern geläufig. In Westdeutschland konzertierte Pikaisen – 54-jährig!! - erstmals im Jahre 1987!
Im August 1986 konnte ich diesen Geiger der Weltspitzenklasse während des Festival Tibor Varga in Sion zum ersten Male sowohl privat als auch beim Unterricht und im Konzertsaal erleben. In den Folgejahren schlossen sich weitere Konzertserien an, die Gelegenheit gaben, einen Ausschnitt aus Pikaisens riesigem Repertoire kennen zu lernen.
Viktor Alexandrowitsch Pikaisen (auch Pikaizen, Pikeisen, Pickeisen) wurde am 15.2.1933 in Kiew geboren. Die Mutter war eine bei Simon Barere ausgebildete Pianistin, der Vater Konzertmeister des Kiewer Opernorchesters. Ab dem vierten Lebensjahr unterrichtete ihn der Vater, ab dem sechsten der Kiewer Pädagoge Joseph Gutman. 1941 zog die Familie nach Alma Ata, wo der Knabe bis gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wieder vom Vater Unterricht erhielt. Elfjährig begegnete er zum ersten Male David Oistrakh. "Ich erinnere mich, wie Oistrakh lächelte, als ich ihm sagte, daß ich Tschaikowskys Violinkonzert und Wieniawskis Faust-Fantasie spielen würde.“ „Gerade das? Was willst Du denn spielen, wenn Du erwachsen bist?" Einige Tage später lud er mich ein, vor den leitenden Professoren des Moskauer Konservatoriums zu spielen: Abraham Yampolsky, Lew Tzeitlin, Konstantin Mostrass, Dmitri Tziganow und Semen Kosolupow."
Von diesem Vorspiel berichtet Igor Oistrakh, daß sein Vater, der von Wunderkindern nicht zuviel hielt, vom Spiel des kleinen Vitja Pikaisen, das er in Kiew hörte fasziniert war. "Diesem Jungen ist die Zukunft eines großen Geigers sicher", sagte mir Vater anschließend. Er hat sich nicht geirrt. Pikaisen war der einzige Schüler, den Vater schon vor dessen Studium am Konservatorium in der Gnessin-Musikschule unterrichtete, gewissermaßen der Rekordhalter bezüglich der Anzahl der Unterrichtsjahre bei Vater.- fünfzehn Jahre! Pikaisen gehört zu jenen Violinisten, die der sowjetischen Violinschule innerhalb und außerhalb unserer Grenze Ehre machen." Neunjährig debütierte Vitja in Alma Ata mit Wieniawskis Zweitem Violinkonzert. Als Dreizehnjähriger bekam er Gelegenheit, Rakows Violinkonzert zu spielen: „Ich nahm an und vereinbarte, das Konzert in dreizehn Tagen zu lernen.“ Nach einem Konzert in Moskau mit Bach’s g-moll-Sonate, Lalo’s Sinfonie espagnole, Wieniawski’s Faust-Fantasie und einigen kleineren Stücken nahm ihn David Oistrakh 1946 als Schüler auf.
Während der fünfzehn Jahre bei David Oistrakh errang Pikaisen eine Reihe von internationalen Preisen:
1949 Jan-Kubelik-Wettbewerb Prag (2. Preis)
1955 Concours Reine Elisabeth Brüssel (5. Preis)
1957 Thibaud-Wettbewerb Paris (2. Preis)
1958 Tschaikowsky-Wettbewerb (2. Preis)
1965 Paganini-Wettbewerb Genua (l. Preis)
Pikaisen: „Die Jahre des Unterrichts in Oistrakhs Klasse sind für mich die denkwürdigste Zeit meines Lebens. Über Oistrakh ausschließlich als Pädagogen zu sprechen ist unmöglich, weil die verschiedenen Aspekte seiner vielseitigen künstlerischen Tätigkeit organisch ineinander übergingen. Seine Kunst leuchtete in immer neuen Facetten auf Das Wichtigste, was uns David Fjodorowitsch beibrachte, war, bei der Interpretation stets vom Inhalt der Musik des jeweiligen Werkes auszugehen. Er war ein Feind jeglicher Willkür beim Vortrag, er lehrte uns die Wahrheit in der Kunst." Seit 1966 lehrte Viktor Pikaisen selbst am Moskauer Konservatorium. Seine Tourneen führten ihn durch die Sowjetunion, weite Teile Europas, den Mittleren und Fernen Osten und nach Lateinamerika.
Die sehr lange Zeit der Ausbildung bei David Oistrakh hat neben den eindeutigen Verdiensten möglicherweise auch zu einer gewissen Abgrenzung "experimenteller" Musik gegenüber beigetragen. Ohne diese Aussage generalisieren zu wollen, zählt Pikaisen eher zum Typus des bewahrenden Musikers. An zeitgenössischer Musik spielte und spielt er vorwiegend die seiner Landsleute, denen er meist in persönlicher Freundschaft verbunden ist (oder war). Erwähnt seien hier Schostakowitsch, Khatchaturian, Prokofjew, Boris Tschaikowsky, Kabalewsky, Chrennikow, Sviridow, Wainberg und Zara Lewina. "Umstürzlertum" liegt nicht in seiner Natur. Weder das Hineingeborenwerden in widrige äußere Zeitläufte noch die Umstände seiner Ausbildung bei David Oistrakh dürften eine solche Entwicklungstendenz begünstigt haben. Dennoch hat er als erster in Rußland Bartóks Solo-Sonate im Konzertsaal und - zusammen mit Maria Yudina - Strawinskys Duo concertant auf Schallplatte aufgenommen. Auch setzte er sich gleichermaßen im Ausland für zeitgenössische russische Werke ein. Indes, Pikaisens gezielte Fragen legen, wenn nicht Beschäftigung auf dem eigenen Instrument, so doch Beschlagenheit und Interesse am heutigen, auch westlichen, Musikgeschehen nahe. Neben allem anderen absorbiert die Lehrtätigkeit am Moskauer Konservatorium den Löwenanteil seiner Zeit. Berücksichtige man noch seine Konzerttätigkeit, bliebe ihm viel zu wenig Zeit für seine Familie. Mit besonderem Stolz erwähnt er seine Tochter Tatjana, die inzwischen am Moskauer Konservatorium ihre Abschlußexamina sowohl für Cembalo als auch Klavier abgelegt habe. Mit ihr zusammen könne er sich trotz seiner knappen Zeit sehr der Kammermusik widmen. Hier nun fallen die Namen Mozart, Beethoven, Brahms - und wieder Bach.
1987 konnte man Pikaisen endlich auch in Deutschland erleben. Albrecht Roeseler berichtete in der Süddeutschen Zeitung:

Leicht verspäteter Triumph

Der Geiger Viktor Pikaizen erstmals in der Bundesrepublik

Immer neue Oistrach-Schüler haben, wir im Lauf der Jahrzehnte hier bei uns begrüßen können - den Sohn Igor an der Spitze, nach ihm so verschiedenartige Talente wie Gidon Kremer und Liane Issakadse, Tatjana Grindenko und Wladimir Spiwakow. Nur einer, den man stets zum engeren Oistrach-Clan zählte, umkreiste bei seinen triumphalen Konzertreisen durch Europa die Bundesrepublik: Viktor Pikaizen, heute 53 Jahre alt und einer der treuesten Oistrach-Adepten (er kam als Kind unter seine Obhut und blieb anderthalb Jahrzehnte lang sein Schüler), belegt die These, daß dieser berühmte Künstler und Pädagoge Oistrach keineswegs Schüler nach dem eigenen Bilde formte, sondern sowohl gradlinige strenge Virtuosen als auch emphatische Romantiker zu Musikern werden ließ, deren Eigenarten die Palette des Geigenspiels in unserer Zeit lebendig halten.
Viktor Pikaizen, in Kiew geboren und heute ein untersetzter, Liebenswürdigkeit verströmender Herr, entspricht so gar nicht dem Bild eines dämonischen Hexenmeisters - einen Eindruck, den seine (hierorts äußerst raren) Platteneinspielungen vermitteln mochten. Man vernahm einen von nervöser, emphatischer Tongebung, aber zugleich von phänomenaler Geigentechnik geprägtes Spiel; Paganini und Wieniawski spielten eine zumindest so eindrucksvolle Rolle wie Werke von Beethoven oder die Solo-Sonaten von Bach. Behutsamkeit in der lyrischen Überredungskunst, hexentänzerisch sicher in aller technischen Bewältigung, aber, wo es verlangt war, von herrlich ruhiger Überzeugungskraft, sprach Pikaizen mit einer geigerischen und musikalischen Überlegenheit die Staunen machte und Glück bescherte. Wer die Chance hatte, ihn auf dem Podium zu erleben, fand diese Platteneindrücke ohne Abstriche bestätigt.
Nun also kam er zum erstenmal in unser Land, nach Kirchheim (Teck) und zwei weiteren Auftritten in der Gegend von Singen - keine allzu repräsentative Premieren: Aber die Mühlen der allmächtigen Moskauer Goskonzert-Bürokratie sind kurioserweise auch durch private Kontakte in Bewegung zu bringen; eine deutsch-schweizerische Konzertagentin, die einst selbst in Moskau Geige studierte, brachte Pikaizen endlich hierher und will den Künstler im Herbst 1988 definitiv zu einer Deutschland-Tournee verpflichten. Hoffentlich gelingt es.
Pikaizen hatte sich ein wahres Mammut-Programm zugemutet, bei dem ihm seine Tochter Tatjana sehr selbständig, sehr sicher am Klavier sekundierte: Mozarts Es-Dur-Sonate (Nr. 12) ging sie ungleich beherzter an als ihr Vater, dessen behutsame, fast etwas betuliche Zurückhaltung noch nicht überzeugt. - Beethovens Kreutzer-Sonate folgte zunächst diesem zurückhaltenden Ideal - tastend die Einleitung noch; aber dann zeigte sich Pikaizens rückhaltlos emporjagendes Temperament. Grimmig abgerissene Akkorde, blitzschnelles Wechseln von Dynamik und Stimmung, in raschen Forte-Stellen bis in die Regionen des Geräusches reichend, eine Sonate, wahrhaft im vorgeschriebenen "stile concertato" musiziert. Die Variationen hingegen waren von liebenswürdig-lyrischer Grundhaltung geprägt, voller abschattierender Gestaltungs­kraft, das Minore und vor allem die Coda unvergleichlich spannend in ihrer Erzählweise. Im Finale schließlich markierte wieder ein leidenschaftlicher, fast unwirscher Zug die Interpreta­tion, ein musikalisches Drama wurde deklamiert; der Geigenton diente keinem Schönheitsideal mehr, und das war ebenso betrüblich wie imponierend.
Pikaizens romantisch-dramatische Kunst ist noch immer beeindruckend, und das vor allem in allen lyrischen Passagen, denen er auf geradezu abgefeimte Weise zur Verdeutlichung verhilft, dennoch ist er keineswegs ein Kleinmeister, ein Nur-Bewältiger der kleinen Formen (natürlich auch dieses!). Der Bogen ist noch durchaus der Kantilene fähig, aber alle raschen - und intensiven - Passagen geraten klanglich auf Nebengleise, wo sie dann hörbar knirschen. Ob das die Tagesform war oder bereits eine Alterserscheinung, die bei musikalischem Volldampf dem sinnlichen Wohllaut Lebewohl sagt, ist nicht ohne weitere Begegnungen zu entscheiden. Da Pikaizen niemals ein musikalischer Verfechter des saftigen Bombentons gewesen ist, wirkt solches Forcieren nunmehr beklagenswert.
Sein Programm war in Kirchheim noch lange nicht zu Ende, aber die Eindrücke wiederholten sich: zwei Solosonaten von Eugène Ysaÿe, Nr. 3 und diejenige Nr. 6, deren Hürden und Klippen eigentlich jede makellose Live-Aufführung unwahrscheinlich machen, gaben durchaus markante Beispiele virtuoser Meisterschaft, aber nicht ohne Kampf. Alfred Schnittkes Suite im Alten Stil und Prokofjews, Geigen (auch Flöten-)Sonate op. 94 überzeugten dann wieder durch meisterliche Erzählkunst, an der freilich Tatjana Pikaizen großen Anteil hatte. Die Zuhörer im neuen, am Eröffnungsabend bereits überfüllten Saal im Dachstuhl der Kirchheimer Kreissparkasse (die sich diesen Pikaizen-Auftritt etwas kosten ließ) mochten den Geiger erst nach drei Zugaben ziehen lassen: bei Kreisler und Tschaikowsky demonstrierte er nochmals seine unvergleichliche geigerische Leuchtkraft, bei Sarasates "Zapateado" kam der Virtuose nochmals zu Wort. Es war ein etwas verspäteter Triumph, den sich der berühmte Viktor Pikaizen da erspielt hat - aber es war doch einer.
ALBRECHT ROESELER

Es war schon eine merkwürdige Situation: ein Geiger der absoluten Weltspitzeklasse mußte im Dachstuhl einer deutschen Kleinstadt-Kreissparkasse beweisen, daß er noch tauglich sei. Auch wenn wir es heute nur noch mangelhaft nachvollziehen können: für Victor Pikaisen hingen an diesem Konzert alle Hoffnungen für eine späte "West-Karriere"! Im Gegensatz zu Albrecht Roeseler konnte ich den Geiger in Kirchheim während des Konzertes aus allernächster Nähe beobachten. Pikaisen war ganz offensichtlich in äußerst angespannt-erregter Verfassung, seine Hände zitterten vor Nervosität! Und bis auf die wenigen, auch von Roeseler wahrgenommene Überreaktionen hatte sich Pikaisen völlig unter Kontrolle. Ja, es muß gerade als Beleg für sein Format gelten, daß in langsamen, oft auch leisen, lyrischen Teilen nichts von diesem Überdruck in die Tongebung durchschlug. Hier war auch nicht die Spur von Nervosität zu hören!
In den Folgejahren konnte Victor Pikaisen noch eine ganze Reihe von Konzerten und Kursen in Deutschland und Österreich geben, die ihn im Vollbesitz seiner Fähigkeiten zeigten. Am Rande: ein chinesischer Student von Tibor Varga hörte in meinem "Musikbunker" einige Aufnahmen mit Victor Pikaisen - und war so "vom Donner gerührt", daß er nach Taiwan zurückgekehrt Konzert-Veranstalter überreden konnte, mit Vater und Tochter Konzerte zu veranstalten, was auch über einige Jahre hinweg realisiert wurde!
Inzwischen haben sich die so dramatisch veränderten Verhältnisse in der ehemaligen Sowjet-Union auch auf Leben der Familie Pikaisen gravierend ausgewirkt. Er lebt und lehrt heute (1998) in Ankara, Tochter Tatjana hat in den USA Fuß gefaßt.

Repertoire
Pikaisens Repertoire umfaßt Musik von Bach bis zur Gegenwart, hier vor allem Werke seiner Landsleute. Aram Khatchaturian und Boris Tschaikowsky (* 1925) widmeten ihm Violinwerke. Seine Gesamteinspielung der Paganinischen Capricen aus den sechziger Jahren wird von Kennern an die Spitze aller existierenden gestellt. Pikaisen möchte dieses Opus 1 auch heute noch über den rein geigerischen Exhibitionismus hinaus als Miniaturen voller Phantasie, Skurrilität und eben als Caprichos (durchaus den Radierungsfolgen Goyas verwandt) sehen.
1984, als späte Huldigung zu Paganinis 200. Geburtstag, spielte er in der Église du Collège in Sion alle 24 Capricen an einem Abend auf einer geigeri­schen Höhe, die ihn noch immer als zur Weltspitzenklasse gehörend ausweist. Am 14. Au­gust 1986 versetzte er in Crans-Montana sein - insbesondere durch die anwesenden Mu­sikstudenten kundiges - Publikum mit der Wiedergabe des Zweiten Violinkonzertes von Paganini in Staunen. Mit den 24 Capricen konnte man ihn 1989 in Colmar und noch 1996 in Taiwan erleben.

Pädagoge und Virtuose
Nun mögen fassungsloses Staunen und die faszinierendste Wiedergabe Paganini­scher Werke viel über den Rang als Virtuose aussagen, für das Format des Musikers und Menschen sind dies noch keine umfassenden Belege. Als "Mensch" und Pädagoge konnte ich Pikaisen in Sion, St-Gallen (Steiermark) und Karlsruhe jeweils ein bis zwei Wochen lang hautnah erleben. In erster Linie beeindruckten mich seine unglaubliche Bescheiden­heit, Liebenswürdigkeit und unermüdliche Geduld, die er nicht nur im privaten Gespräch, sondern auch beim Unterrichten seinen Studenten gegenüber an den Tag legte. Bei den Kursen zeigt Pikaisen eine Detailkenntnis, die staunen macht - obwohl man sie von ei­nem Musiker dieses Ranges eigentlich erwartet. Von Bach zu Paganini, Mozart zu Tschaikowsky, Chausson bis Prokofjew - was die Kursteilnehmer auch vorbereitet haben mögen, ohne Blick in die Noten hört er sich das Vorspiel zunächst ohne Unterbrechung an, lobt den erreichten Stand - und setzt dann mit unnachgiebiger Freundlichkeit mit Ratschlägen, Korrekturen und Forderungen an. - Lassen sich seine in englisch erteilten Weisungen nicht restlos verdeutlichen, greift er zu seiner Storioni (Pikaisen: Die beste, die ich je in Händen hatte) und man könnte meinen, es lege jemand einen Tonabnehmer auf eine Schallplatte: geigerisch-musikalische Kompetenz, Perfektion, Genauigkeit des Phrasierens, Erzählkunst innerhalb zweier Takte, Stilistik, Querbezüge zu verwandten Stücken, auch pure Technik, Herauspräparieren der "Fehler" und Aufzeigen der Korrekturmöglichkeiten fließen ohne jede Aufdringlichkeit oder Lehrhaftigkeit ineinander über. Pikaisen wirkt dabei so ungeteilt, so völlig von seiner Aufgabe aufgesogen, daß der Lernende eigentlich das Gefühl bekom­men muß, es gäbe nichts Wichtigeres, als hier und jetzt die Gestalt ei­nes mehr oder weniger vertrackten Violinwerks herauszuarbeiten.
Wie sehr Pikaisen dabei den Geiger in sich offenbart, verraten seine illustrierenden Bewegungen. Die Hände übernehmen die von der Violine her gewohnten Rollen. Die Rechte raumgreifend artikulierend, Ausdruck erzeugend, kosend - die Linke Vibrato in die Luft zeichnend, Akzente unterstreichend. Zwischendurch mit dem rechten Mittelfinger ge­gen das eigene Ohr klopfend auf Intonation aufmerksam machend oder mit kurzen Zwi­schenrufen Fingerzeige gebend - und wieder und wieder korrigierend, modellierend, zu musikalischer Sprachhaftigkeit führend. Trotz aller nervenaufreibenden Kleinarbeit verließ jeder der jungen Geigerinnen und Geiger seine Stunde, wenn auch ermüdet, so doch mit unverhohlener Begeisterung. Beobachtet man Pikaisen länger beim Unterricht, kann man seine Aussage über die denkwürdigste Zeit meines Lebens nur unterstreichen. David Oi­strakh scheint "im Geiste" stets anwesend, spätestens jedoch, wenn Pikaisen händerin­gend, aber vergebens um einen sprechenderen, profilierteren Ton bittend die "letzte In­stanz" anruft: Professor Oistrakh said ever: "the quality of tone"; you must speak on the violin!
Mit dem sowohl beim Unterricht als auch auf dem Podium Gezeigten vor Augen und in Ohren, gilt es einige Urteile, soweit hierzulande überhaupt vorhanden, "nach oben" zu korrigieren. Nach dem Tode David Oistrakhs, Leonid Kogans und Samuil Furers gehört Viktor Pikaisen zu den letzten und geigerisch überwältigenden Vertretern der "russischen Violinschule" - zumindest jener Tendenz, die mehr als ein halbes Jahrhundert richtungweisend war. Verfallserscheinungen in dieser "Hohen Kunst des Violinspiels" sieht Pikaisen in den schnell- und kurzlebiger gewordenen Lebensgewohnheiten unserer Tage. Er hält wenig von ständigem Lehrerwechsel. Ein junger Musiker sollte sehr lange vom gleichen Lehrer unterrichtet werden, damit auch dieser die Gelegenheit hat, die spezifischen Anlagen seines Schülers zu erkennen, zu fördern und die Ausbildung immer wieder seiner Entwicklung anzupassen. Andernfalls kämen - bei nicht von vornherein ausgeprägten Persönlichkeiten - unausweichlich unentwickelte, nicht zur Reife gelangte oder nicht zu ihrer eigenen Begabungsstruktur vorgedrungene Geiger heraus. Allerdings seien für diese Aufgaben auch außergewöhnliche Lehrer erforderlich, die imstande wären, nicht nur Kopien ihrer selbst heranzuziehen, sondern ihrer hohen pädagogischen Aufgabe gerecht zu werden.
Pikaisens Schallplatten spiegeln im wesentlichen das Bild eines überaus vital agierenden Geigers. Sein spieltechnisches Vermögen stand lange Zeit dem seines Kollegen Leonid Kogan ebenbürtig gegenüber. Wie die Zeit inzwischen lehrt, konnte sich Pikaisen auf dieser Höhe wesentlich länger halten als Kogan. Markante Unterschiede sind dabei aber weniger auf der rein handwerklichen Seite zu suchen. Pikaisen versteht zwar bei virtuosen Höchstansprüchen mit unerbittlichem Zugriff seinen Weg durchs geigerische Gelände zu bahnen, gerät dabei aber niemals in Bereiche reiner Brutalität oder genialisch-großzügig geschlampter Parforce-Touren. Manchmal allerdings geht er Risiken ein, deren Resultate faszinierend sein können - wenn "es klappt". Falls nicht, war es ihm einen Versuch (oder eine Versuchung?) wert. Normalerweise aber scheint auch in Grenzsituationen Oistrakhs Forderung nach der quality of tone als Menetekel an der Wand zu stehen. Feind jeglicher Willkür, Wahrheit in der Kunst und ein wohl eher "gemütvolles" Innenleben ziehen ein immer gegenwärtiges - vereinzelt fast hemmend wirkendes - Verantwortungsbewußtsein und eine leicht romantisch angehauchte Grundhaltung nach sich. Unter Hinzunahme der durch direkte Gespräche, Unterrichts- und Podiumseindrücke gewonnenen Fakten kann wohl in jedem Einzelfalle davon ausgegangen werden, daß Pikaisen in der Tat jegliche Willkür zu meiden und die Wahrheit in der Kunst mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu erreichen sucht. Dies führt bei virtuoser Literatur (Paganini: op. 1, Nr. 1 - 24, Violinkonzerte Nr. 1 D-Dur op. 6, Nr. 2 h-moll op. 7 sowie diverse Variationenwerke, Wieniawski: Violinkonzert Nr. 1 fis-moll) zu einer Kombination von gestochener Akkuratesse (bei wenigen Geigern hört man so genau, "was da passiert"), Weitere bestimmende Merkmale: Abwesenheit täuschender Blendereien (Geigerjargon: das ist bar bezahlt), gestaltgebende Durchformung (was Pikaisen an Musik aus Paganinis Capricen quetscht, scheint mehr, als die Stücke zu geben imstande sind - doch denke man an Liszt, Schumann, Brahms, Rachmaninow usw.!). Pikaisen führt geigerische Grenzsituationen durch die Realisierung des unmöglich Scheinenden herbei. Dabei meidet er alles Nebulöse; man kann bei ihm keinen "Außer-Rand-und-Band-Paganini" erleben.
Das Campanella-Feuerwerk brennt er einerseits mit der Unbeirrbarkeit einer einmal eingeschlagenen Flugbahn ab - und nimmt sich dennoch Zeit, "Große Oper" zu inszenieren. Die - vor allem im Adagio aufgezeigten - Charaktere könnten durchaus einer Oper von Rossini (mit dem Paganini engstens befreundet war; Paganini dirigierte 1821 die Premiere und zwei weitere Vorstellungen von Rossini's Mathilde de Shabran im Teatro Apollo in Rom) entstammen. Wendet sich Pikaisen "alten Italienern" wie Geminiani zu, ist ihm manisches Historisieren fremd. Vielmehr versucht er zu verdeutlichen, daß diese Komponisten in Personalunion Schaffende, Interpretierende und die "Ersten Virtuosen" ihrer Zeit waren - und daß der Belcanto in Italien seine Heimat hat. In diesem Sinne können wir bei ihm Virtuosität in einem sehr ursprünglichen Sinne erleben. Das lateinische virtus behält bei Pikaisen noch seinen Wortsinn - Tugend und Tüchtigkeit besitzen bei ihm, ohne billigen Beigeschmack,  hohe Priorität.
Von Paganini zu Mendelssohn ist es für ihn nur ein kleiner Schritt. (Mendels­sohns frühe Bekannt­schaft mit Cherubini und seine Italienreise sind be­kannt, das e-Moll-Violinkon­zert entstand erst 1844 – vier Jahre nach Pagani­nis Tod). Mühelos zitiert Pikai­sen aus einer Pagani­nischen Ca­price, führt sie fast wörtlich mit­tels Mendelssohns Violin­konzert fort - Ita­lianata und Capriccio-Laune konnten kaum näher an­einander­rücken. Johann Sebastian Bach gehört für Pikai­sen - wie für die meisten Musiker zu den letztlich nicht erklimmba­ren Höhen. Hier nimmt er neben der Bogenhand sogar die Linke zu Hilfe, um in weit aus­holen­der Bewegung die buchstäbliche Un­umfaß­barkeit anzu­deuten. Natür­lich würde er heute ge­genüber seiner Ge­samteinspie­lung der Violin-Solo-Sonaten und -Partiten von 1971 manches an­ders machen, aber seine Storioni würde er wieder dazu ver­wenden, sie entsprä­che nach wie vor - viel mehr als eine Guarne­rius - seinen klangli­chen Vorstel­lungen bei der Reali­sierung dieser Werke. Sicher würde Pikaisen eine ganze Reihe von Einzelsät­zen weniger statuarisch spielen, weniger entper­sönlicht, "Regungen" spüren lassend. Je­denfalls legen dies seine während des Unterrich­tens vorge­führten Beispiele - und die Zugaben auf dieser CD - nahe.                Wolfgang Wendel

Diskographie

J.S. Bach: Sonaten und Partiten für Violine Solo (Eurodisc 86 195KK) Béla Bartók: Contrasts, Solo-Sonate (D 016509/10)

L. v. Beethoven: Violinkonzert D-dur op.61 (Kadenz: Schneiderhan) (C10  -1111411-12), ZYX-MEL 46031-2

L. v. Beethoven : 10 Sonaten für Violin und Klavier, Tatjana Pikaisen, Klavier (Email-Kontakt zum Herausgeber: langs@ms7.hinet.net

L. v. Beethoven: "Kreutzer-Sonate" A-dur op. 47; Geminiani: Violin-Sonate c-moll (C10 -10933-34)

L. v. Beethoven: "Frühlings-Sonate" F-dur op.24; C. Franck : Violin-Sonate A-dur; P. Tschaikowsky: Valse-Scherzo ; M. Ravel: Tzigane SP85390 (privat)

Johannes Brahms: Violin-Sonate G-dur op. 78; N. Paganini : Sonata "Napoleone" (33 C10 - 07637-38)

J. Brahms:  Ung. TanzNr.8; Mostrass: Caprice; Levitin: Variationen op.45; P. Tschaikowsky: Valse-Scherzo op.34 (D4244/5)

A. Dvorak: Violin-Konzert a-moll op. 53 (D023101-2; Eurodisc 78463KK; CdM LDX 78441)

Heino Eller (1887-1970): Violin-Konzert b-moll (C10 25087 004)

Geminiani : Violin-Sonate c-moll; N. Paganini: Caprice op.1, Nr.23; E. Ysaÿe: Mazurka op.11 Nr.3¸ Sarasate: Zigeunerweisen op.20 (D2807)

D. Kabalewsky : Violin-Konzert (EMI-ASD OC 063 0 96 299)

Z. Kodaly: Serenade op.12; S. Taneev: Trio op. 21 (C10 - 06281-2)

Aram Khatchaturian: Sonata monologue für Violine Solo 1975 (VICC-2150)

Ferdinand Laub: Polonaise G-dur op.8; N. Paganini: Caprice op.1, Nr.2; Skriabin: Nocturne op.5 Nr.1 (Supraphon SUEC860))

Nina Makarowa (1906-1976): Werke für Violine und Klavier

Felix Mendelssohn: Violin-Konzert e-moll op.64; Henri Wieniawski: Violin-Konzert fis-moll op. 11 (562.246; Chant du Monde LDX 78 484)

W. A. Mozart: Violin-Sonate F-dur KV 377; S. Prokofjew: Fuga D-Dur; Kontretanz op. 96 Nr. 2; N. Paganini: La Primavera (C33 C10- 06281-2)

W. A. Mozart: Violin-Sonate C-dur KV 403; H.W. Ernst: Erlkönig;  M Vainberg: Sonate für Violine Solo op.126; W. A. Mozart: Sinfonia concertante Es-Dur KV 320e (33 CM 02953-4)

N. Paganini : Capricen op.1, Nr. 1-24 (Chante du Monde LDX 78397/8, ca.1965)

N. Paganini: Capricen op.1, Nr. 1-24 (LS-CD9609-03/04, 1996)

N. Paganini : God save the Queen; Weigl-Variationen; Non piu mesta; Hexentänze (C10 - 18 013/14)

N. Paganini: Violin-Konzert Nr.1 D-dur (arr. Wilhelmj) (04535)

S. Prokofieff : Violin-Sonate Nr.2 D-dur op.94; J.S. Bach: Violin-Sonate; Chausson: Poème; E. Ysaÿe: Solo-Sonate op.27 Nr.3; H. Wieniawski: Faust-Fantasie op.20; P. Tschaikowsky: Melodie; E. Ysaÿe: Mazurka op.11 Nr.3; (LS-CD9609-01/02, 1996)

S. Prokofieff: Violin-Sonate Nr.1 f-moll op.80; Sonate für 2 Violinen C-dur op.56; Andante für Violine und Klavier (arr. Nach op.132); Méphisto-Walzer, arr. nach dem 3. Satz der Walzer-Suite op.132 (Archives Sovietiques 651 037)

Georgi Swiridow: Klavier-Trio; 1945 (CM 03141-2)

A. Vivaldi: Violin-Konzert für 2 Violinen und Streicher; J. Haydn: Konzert für Violine, Klavier und Streicher F-dur; F. Mendelssohn: Konzert für Violine, Klavier und Streicher Nr. 1 d-moll (LS-CD9609-05)

Boris Tschaikowsky: Violinkonzert; Violinsonate (562.272)

C. M. Weber: Violinsonaten op. 10, Nr.1-6 (33 C10 - 08153 -4)

Henri Wieniawski : Faust-Fantasie op.20; 8 Etudes-Caprices für 2 Violinen op.18; Carnaval Russe op.11; Souvenir de Moscou op.6 (Archives Sovietiques 651 034)

E. Ysaÿe : Sonaten für Violine Solo op.27 Nr.1-6 (PODIUM WOW-006-2)

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